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  Porträt
  ...Klangschaften und Resonanzen...
  Anmerkungen zur kompositorischen Arbeit von Thomas Lauck 
  „...keiner, auch der großen Lyriker hat je mehr als sechs bis acht vollendete Gedichte hinterlassen – 
  die übrigen mögen interessant sein... aber in sich ruhend, aus sich leuchtend, voll langer Faszination 
  sind nur wenige...” notierte einst der Autor und Arzt Gottfried Benn seinen Anspruch an ein Kunstwerk, 
  in ihm nur dem Wesentlichen Raum zu geben. Nur wenige Komponisten unserer Tage können diesem 
  Anspruch standhalten. Thomas Lauck, Komponist und Augenarzt zugleich, ist einer von ihnen. Mit 
  größter Sorgfalt werden alle Noten vor ihrer Niederschrift mehrfach „gegen das Licht gehalten”, keine 
  Note ist je zu viel, alles ist auf das Wesentliche reduziert, um Raum für Expansion zu lassen. 
  Seine stilistische Eigenart in handwerklicher Akribie der Materialbehandlung beschreibt den 
  Sonderweg eines unbeirrten Einzelgängers, dessen Werk sich allerdings nur dem erschließt, der sich 
  auf die Anstrengungen des aktiven Hören einlässt. Das Material seiner Kompositionen gewinnt er wie 
  der Winzer seine Beerenauslese im Spätherbst: in sorgfältigster Auswahl des Details, nach einer 
  langen Prozedur der Selbsterfahrung des Hineinhörens in die Einzelklänge, in ihr Eigenleben und ihr 
  Verlöschen. Als virtuelle Dialogpartner stehen ihm dabei u.a. bildende Künstler und auch literarische 
  Texte nahe. Die Würdigung des Einzeltons und seiner Resonanz – dieser klanglichen Tragödie des 
  Verlöschens eines Tones – ist eine seiner zentralen kompositorischen Herausforderungen. Groß kann 
  bei derartiger Arbeitsweise ein Werkkatalog nicht sein. 
  In seinem Werkverzeichnis nehmen die „Resonanzinstrumente” Klavier und Schlagzeug einen 
  zentralen Raum ein: beiden gemeinsam ist die Nicht-Verlängerbarkeit eines Tones. Beides sind 
  „Diminuendo”-Instrumente: Jedem angeschlagenen Ton wohnt bei seiner Klanggeburt bereits das 
  Ende durch Verlöschen inne. Dauern und Crescendi sind Illusion und nur mit Hilfe der Anschlagdichte 
  von Einzeltönen zu haben. Der Einzelklang wird bei Lauck als unverwechselbare „Persönlichkeit” 
  ernst genommen, der man Zeit geben muss, sich zu entfalten. So entstehen polyphone 
  Überlagerungen und Vernetzungen in sich ruhender Klangskulpturen, die sich durch aktives, 
  nachschöpferisches Hören erschließen, was daran erinnert, dass das Hören eine Kunstform sein 
  kann, die sich trainieren lässt, wie etwa das Klavierspiel. Die Kompositionen Laucks sind eine 
  anspruchsvolle Herausforderung für unser Ohr – sie bieten und fordern andauernde Konzentration. 
  Die Schlaginstrumente dienen ihm dabei nicht als exotisches Aroma: Lauck bewahrt durch seine 
  Resonanzkonzeption und die Würdigung des Einzeltons diesen Instrumenten die Aura ihrer Herkunft 
  und gehört damit zu den wenigen Komponisten, welche die Würde dieser meist außereuropäischen 
  Instrumente nicht verletzen; dabei ist der differenziert notierte Rhythmus keinesfalls eine vorwärts 
  treibende Energie, welche den Zuhörer mitreißt und zwangsläufig durch eine Komposition trägt, er ist 
  vielmehr die koordinierende, körperlos-schwebende Struktur einer Klang-Architektur. 
  Allen Stücken Thomas Laucks ist damit eine Statik des Hinhörens eigen: Der Zuhörer verweilt und 
  erfährt lauschend unbekannte „Klangschaften”, die mit eigenem Zeitkonzept vibrierend an ihm 
  vorüberziehen. Dabei komponiert Lauck keinesfalls Bilder oder klingende Geschichten: Die Dramen 
  und Tragödien sind in musikalischen Prozessen des Materials sublimiert, im „plastischen” 
  Hörbarmachen harmonischer und melodischer Verläufe, die sich immer aus einem klanglichen 
  Zentrum heraus generieren: „...in sich ruhend, aus sich leuchtend, voll langer Faszination...”. 
  Thomas Lauck ist im heutigen Musikbetrieb als Einzelgänger ein Sonderfall, den es zu entdecken gilt, 
  ist er doch ein Komponist, der wirklich etwas zu sagen weiß. 
  Bernhard Wulff
  Das Komponieren entdecken …
  über den Komponisten Thomas Lauck
  Ich habe bis 2005 als a.o.Prof. an der Uni Basel gearbeitet, und zwar im Fach Musikwissenschaft. 
  Irgendwann in den neunziger Jahren tauchte Thomas Lauck in meinen Lehrveranstaltungen auf. 
  Langsam fanden wir Kontakt. Das ist nicht selbstverständlich: Thomas, immer Komponist, 
  zwischendurch auch Arzt, von grösster Neugierde auf alle Facetten von darstellender Kunst und 
  Musik getrieben, und ich, mit der dauernden Analyse mittelalterlicher Musiktheorie in ihrem Verhältnis 
  zur Philosophie beschäftigt. Ich weiss es bis heute nicht so genau, was Thomas aus meinen 
  Fachinteressen ableiten konnte. Aber vielleicht kann ich hier kurz erläutern, was aus mittelalterlicher 
  Sicht bei  Komponieren passiert. Denn von da aus ergibt sich – zumindest für mich – ein Verständnis 
  für neuzeitliche kompositorische Anliegen im Allgemeinen und für Kompositionen eines Thomas Lauck 
  im Besonderen.
  Das Mittelalter kennt Notenschrift, findet sich allerdings so wie heute auch einem Ozean von 
  auditiven Daten ausgesetzt. Man überlegt sich, wie sich diese vielfältigen Ereignisse strukturieren und 
  wählt eine bestimmte Menge aus, die man “Musik” nennt. Sie ist charakterisiert durch das Phänomen 
  des Flüchtigen, genannt “Ton”, und durch einen Ordnungsfaktor, der aus einer anderen Welt zu 
  stammen scheint, nämlich die “Zahl”. Der Ton mit der Frequenz 238 beginnt und endet irgendwann, 
  während der Zahlausdruck “238” bleibt – wie auch immer. Soweit man mit Zahlen organisiert, lässt 
  man sich von der Frage nach dem Ganzen und seinen Teilen leiten. Ein Intervall von Tonhöhen oder 
  Zeitspannen besteht aus kleineren Teilen. Man entdeckt im frühen 14. Jahrhundert die symmetrische 
  Anordnung von Tonhöhen- und Tonverlaufsorganisation, die man dann weit später in mathematischer 
  Sprechweise eine Gruppe nennt.
  Man kümmert sich um den horizontalen Verlauf und leitet daraus eine Analogie zur Sprache ab: 
  so, wie ein Satz aus den Lauten als den kleinsten Einheiten besteht, so besteht ein Stück aus den 
  Tönen als den Elementen. Und so, wie in der Sprache die Folge der Laute entscheidend ist, hängt im 
  Falle der Musik alles von der Folge der Töne ab. Die mystische Komponente formuliert der spanische 
  Kabbalist Abraham Abulafia im 13. Jahrhundert. Man entdeckt neue Zusammenhänge, wenn man die 
  Konsonanten eines Wortes kombinatorisch verschiebt. Und genauso entdeckt man neue 
  Möglichkeiten, wenn man ein vorhandenes tönendes Aggregat kombinatorisch verändert.
  Ich versuche im Folgenden, diese Vorgaben in Bezug zu Kompositionen von Thomas Lauck zu 
  bringen. Es ist dabei nützlich, sich eine solche Komposition als akustisches Weltmodell vorzustellen.  
  Ein Weltmodell ist ein Objekt, das aufgrund einer begrenzten Menge von Vorgaben – Elementen, 
  Operatoren – konstruiert ist. Kompositionen von Vivaldi oder Telemann sind keine in sich 
  abgeschlossenen Weltmodelle, Klavierstücke von Brahms auch noch nicht. In akustischen 
  Weltmodellen kann man, geleitet nur vom Gehör, verweilen. Man kann darin wohnen wollen, ohne 
  den Bedarf zu verspüren, andere Stücke hinzuzunehmen.
  In den Lauck‘schen Modellen ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis von den Teilen zum 
  Ganzen jeweils unterschiedlich. Die Frage stellt sich immer, und das bereits aufgrund der Besetzung. 
  Stücke für Sopran, Oboe und Theorbe oder für Cembalo mit einer Orgelpfeife oder für Bassklarinette 
  und Klavier mit vier Schlaginstrumenten sind ungewohnt für die Ohren. Wer Ohren hat der höre, wie 
  die einzelnen Teile das Ganze ausmachen. Die nicht gewohnte Wahl – gewohnt ist Streichquartett, 
  Klaviertrio etc. – ermöglicht es, sich die Frage nach dem Zusammenhang ganz neu zu stellen.
  Die mittelalterlichen Zugangsweisen zur Musik sind einfach. Das hat zwei Vorteile. Man kann mit 
  fast allen darüber reden, was Musik ist und man kann mit fast allen anhand elementarer Übungen 
  erleben, was Musik ist. Thomas macht das so, dass er neben der kompositorischen Vielfalt – zu 
  erörtern sind dann seine spezifischen Behandlungen von Klängen, von Skalen etc. – durch 
  spezifische Anweisungen in den Partituren die ästhetische Seite, die Wahrnehmungsseite seiner 
  Hörerinnen und Hörer, regelt. So sieht er für sein Fragment für Kammerorchester eine Cabaze vor 
  („aus Kürbis mit dichtem Samenkernnetz“) oder einen Triangel („mittelgr., Schenkellänge ca. 20cm – 
  ohne best. Tonhöhe –“). Da ist der Komponist um seine Hörer und nicht um seine Analytiker besorgt.
   Man hat daher immer die Wahl. Wer analytisch interessiert ist, wird sich fragen, ob in den 
  Resonanzen II für Klavier und Schlagzeug der D-Teil als Komplement zum ersten Aggregat des 
  Stücks ein E-Niveau etabliert im Klang f-as-h-dis-e. Das ist eine Frage für Leute mit guten Ohren und 
  Interesse an der Partitur. Wer ohne Partitur das Gehör schärfen will,  möge das Stück „Denk daran, 
  die Erde ist eine Trommel“ für Schlagzeug-Quartett hören. Der Titel stammt aus einem Gedicht von 
  Joseph Bruchac, einem in den USA lebenden Abenaki-Indianer. Was hat es mit der Komposition auf 
  sich?
  Ich bleibe bei dem, was sich mir ergeben hat, ohne so zu tun, als hätte ich Laucks Intentionen 
  verstanden. Ich nähere mich dem Phänomen von der Soziologie her: seit Bourdieu in Die feinen 
  Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft vom Jahre 1979 gezeigt hat, dass es 
  Unterschiede bezüglicher musikalischer Präferenzen gibt – Intellektuelle, Akademiker zumal, wählen 
  die Kunst der Fuge, Handelsvertreter eher Petula Clark (wir sind im Jahre 1979, heute wäre wohl 
  Helen Fischer oder Andrea Berg einzusetzen) – ist musikalischer Geschmack unter Verdacht geraten.  
  Nichts gegen Personen, die sich fern von jeder selbstbestimmten  Lebenspraxis in  Bücherwelten, in 
  einer intellektuellen Blase aufhalten. Nur könnte es so sein, dass Liebhaber des Modernen genauso 
  wie Liebhaber von Gucci-Schuhen und teuren Autos etwas Sozialprestige einfordern und nebenher 
  das Musikalische als ganz spezielle Blase ohne jeglichen Praxisbezug erleben. (Der Philosoph 
  Nassim Nicholas Taleb gebraucht dafür den Begriff des "Intellektuellen-Idioten"). In unserem 
  Zusammenhang wäre das Liebe zur modernen Musik als Praxisvermeidung. Ganz anders Lauck, der 
  als praktizierender Augenarzt das Sehen fördert und als praktizierender Komponist sich dem Gehör 
  widmet. Wie macht er das?
  Der Satzteil „Denk daran, die Erde ist eine Trommel“ stammt aus einem Gedicht, das da lautet:
  Nahe den Berge
  klingt der Felsboden
  hohl
  unter den Schritten.
    
  Er sagt dir: Denk daran,
  die Erde ist eine Trommel.
    
  Wir müssen sorgsam
  auf unsere Schritte achten,
  um im Rhythmus zu bleiben.
  Wir machen uns das Gedicht klar, indem wir es mit den Augen lesen. Die Laucksche Version des 
  Satzes ist nicht klangpoetisch, obgleich er uns das Gedicht hören macht. Wir hören die Erde als 
  auditives Gegenüber, als eine Trommel jenseits von uns, und indem wir hören, gebrauchen wir 
  unseren Körper als Resonanzboden. Rhythmisches affiziert den Körper immer! "... die Erde ist eine 
  Trommel", und im Körperbewusstsein werden wir momentan zur Trommel. Lauck verwickelt alle, die 
  hören wollen, in eine Praxis, in der wir uns üben können.
  Wenn wir sorgsam auf unsere Schritte achten, ist das kein Geschäft innerhalb einer Blase, 
  sondern das sorgsame Befolgen eines Geschäfts der Achtsamkeit beim Gehen. Wir übertragen vom 
  Gehen auf das Gehör, wenn wir mit dem arbeiten, was die Schlagzeuger im Vollzug der Partitur 
  machen. Lauck ist kein Moralist, sondern Gelegenheitsschaffer. Wer die Gelegenheit beim Schopf 
  packt, konzentriert sich meditativ auf eine körperlich spürbare rhythmische Vielfalt. Vorbildung ist – 
  wie bei allen Lauckschen Kompositionen – nicht gefragt, sondern die Bereitschaft, körperlich aktiv zu 
  werden. Das Stück verdeutlicht als Organisation von Symbolen auf der Ebene des Hörbaren, was es 
  heisst, auf die Schritte zu achten.
  Wer sich auf Laucksche Kompositionen hörend einlässt, gerät in eine paradoxe Situation. Üblich 
  ist die Annahme, dass Hörer passiv sind gegenüber denen, die etwas zu Gehör bringen. Wer 
  allerdings bereit ist, sich körperlich einzubringen, realisiert eine Praxis aus eigenem Recht.
  Man könnte angesichts solcher Momente denken, die Laucksche Musik sei esoterisch. Sie lädt 
  zum Meditieren ein und ist nur in einem eher älteren Sinne nach Innen gewendet und in diesem 
  ursprünglichen Sinne esoterisch. Man mag sich das überlegen mit dem berühmt gewordenen Satz 
  des polnischen Semiotikers Alfred Korzybski, der einmal festhielt, die Karte sei nicht das Territorium. 
  Das Gebiet, auf das wir uns beziehen, bilden wir nicht ab. Wir transformieren es in eine symbolische 
  Ordnung. Die Eigenheit der Ordnungen innerhalb der akustischen Weltmodelle, wie Thomas Lauck 
  sie in Noten und Klang vorlegt, verdeutlichen, radikal auf der Ebene des Gehörs realisiert, eine 
  Symbolordnung in Bezug auf ganz unterschiedliche Territorien.
  Soweit solche Modelle radikal sind, zeigen sie die Eigenschaft, dass nur einige wenige Elemente 
  eingebracht werden, die das Ganze strukturieren, und dass diese Elemente kombinatorisch 
  verarbeitet werden. Es ist dann so, als wäre man beim Hören in der Zeit, aber immer während einer 
  gewissen Zeit am gleichen Ort, und vermöge Orte mit dem Gehör zu verbinden, weil ihre 
  Zusammenhänge kombinatorisch gestiftet sind.
  Mehr kann uns Hörern heutzutage nicht beschieden sein.
  Max Haas